Nun soll es aber jedenfalls erstmal raus aus Dublin gehen – der geschäftliche Teil ist getan, und so beginnt also nun die Freizeit. Erstmal hole ich das Leihauto ab – ein Seat mit Automatikgetriebe. Manuell geht gar nicht mehr – in Japan ist es sogar schwer geworden, ein Auto mit manuellem Getriebe zu bekommen, und da die bessere Hälfte keine Lust aufs Schalten hat, fahren wir seit vielen Jahren nur noch Automatik. Gebucht hatte ich einen Toyota Yaris (ein Modelname, den es in Japan nicht gibt), doch ich bekomme einen Seat. Der Fahrersitz ist – aus meiner Perspektive – auf der richtigen Seite, denn in Irland fährt man wie in England und Japan auf der linken Seite, und damit ist der Fahrersitz rechts. Damit man Vorbeifahrende / Vorbeireitende auch richtig mit dem Schwert in der rechten Hand schlagen kann. Doch in Sachen Bedienung gibt es einen wesentlichen Unterschied zu japanischen Modellen – in Japan ist der Blinker / Lichtschalter auf der rechten Seite und die Scheibenwischerbedienung auf der linken Seite. Das sorgt beim Fahren in Europa immer wieder dafür, dass ich bei den ersten drei Kreuzungen den Scheibenwerfer anschmeisse, anstatt zu blinken. Das muss ziemlich lustig aussehen. Natürlich mache ich bei der Rückkehr nach Japan auch erstmal genau das. Aber man gewöhnt sich an alles.
Das Auto hat kein Navigationssystem, aber man kann es mit dem Smartphone verbinden, und dank eSim ohne Datenvolumeneinschränkung kann ich so also Google Maps als Navigationssystem benutzen. Apple Maps habe ich aufgegeben – viele Daten fehlen, außerdem versucht Apple Maps immer auf Teufel komm raus, alle Straßen- und Ortsnamen ins Japanische zu übersetzen.
Nach zwei, drei Versuchen steht die Verbindung und es geht raus auf die Straße. Die wichtigsten Unterschiede werden sofort deutlich:
- Die »Lána Bus« beschrifteten Spuren – diese sind Bussen und Taxis vorbehalten. Das Problem: Manchmal beginnen die plötzlich, so dass man sich mit etwas Pech plötzlich im dichten Verkehr auf einer solchigen wiederfindet – was Bußgeld kosten kann
- Viele mehrspurige Straßen sind Einbahnstraßen – obwohl Linksverkehr ist, fährt man also manchmal plötzlich auf der rechten Spur. Das kann verwirren, wenn man plötzlich an einer Stelle mit wenig Verkehr ist – man muss genau aufpassen, ob man in einer Einbahnstrasse ist oder nicht.
- Die Fahrer sind fast alle verhältnismäßig freundlich… freundlicher als in Japan zum Beispiel
- Die Vorfahrtsschilder haben alle ein »Yield« (=»gib nach!«) im Schild stehen – ich muss immer unweigerlich an Ritter denken, die aufeinandertreffen: »Yield!« – »Never!«
- Die Ampeln für Fußgänger sind ein Rätsel: Fast immer warten die Menschen bei Rot, aber nicht, bis sie grün werden – irgendwann hat immer irgendjemand die Schnauze voll vom langen Warten und geht deshalb bei dunkelrot rüber – der Rest folgt. Wenn es endlich grün wird, wartet niemand mehr.
Obwohl ich »The tunnel« auf dem Weg nach Norden vermeiden will, schließlich kostet die kurze Passage geschlagene 12 Euro, komme ich nicht drum herum, bin aber so in weit weniger als einer Stunde in Swords, einer lieblichen Kleinstadt nur ein paar Kilometer nördlich von Dublin. Neben der schmucken »High Street« gibt es dort eine halb restaurierte Festung aus dem 13. Jahrhundert – doch obwohl man hier von einem »Castle« spricht, war es im Prinzip »nur« die Residenz des Erzbischofs. Hier ungefähr verlief im Mittelalter »The Pale«, der »Zaun« – das Gebiet, das direkt vom englischen König verwaltet wurde. Alles außerhalb stand entweder unter der Kontrolle der anglo-irischer Lords (vor allem der Süden), der Rest unter der Kontrolle irischer Feudalherren. Die Redewendung »beyond the pale«, die heute »inakzeptabel/indiskutabel« bedeutet, stammt möglicherweise aus jener Zeit, aber so ganz ist das wohl etymologisch noch nicht sicher.
Schön an Swords Castle ist die Tatsache, dass man die Feste nicht totsaniert hat – man hat sie halbwegs im Ruinenzustand gelassen, was sie umso reizvoller macht. Aber es muss auch schon weitergehen. Schnell noch in der Arch Bar, einem gewaltig großen Pub, etwas zu Mittag gegessen, dann den Hauptgrund der Reise nach Irland zum Flughafen gebracht und schon geht es auf die M1, die Autobahn gen Norden, Richtung Belfast. Bis dorthin sind es nur gut 100 Meilen beziehungsweise knapp 170 Kilometer. Da man auf der Autobahn 120 fahren darf, braucht man also nur anderthalb Stunden – nicht aber, wenn man vorher auf einer Karte entdeckt hat, dass etwas abseits der M1 und bereits in Nordirland die »Mourne Area of Outstanding Natural Beauty« liegt – das sah nach einem passablen Abstecher aus.
Die Grenze zu Nordirland ist trotz Brexit 100% grün – wenn man nicht aufpasst, passiert man sie ganz, ohne sie zu bemerken. Man wundert sich dann maximal darüber, dass die Höchstgeschwindigkeit so niedrig angesetzt ist, was aber einzig und allein daran liegt, dass die Angaben hier in Meilen sind. Von der Abfahrt in Newry geht es durch saftig-grüne Weiden und kleine Wälder via Mayobridge und Hilltown zu den Mournes, einem küstennahen Granitgebirge, das bis zu 850 m hoch ist. Die Berge sind weitestgehend kahl bis felsig, mit vereinzelten Seen hier und da. Eine wildromantische Landschaft, in der man am liebsten gleich loswandern möchte. Dafür ist nicht sehr viel Zeit, aber im sogenannten »Silent Valley« kann man ein bisschen in aller Ruhe spazieren gehen – bis zum Silent Valley Reservoir, einem Wasserspeicher, der unter anderem das nahegelegene Belfast mit sehr sauberem Trinkwasser versorgt. Dort ist der »bell-mouth«, der Überfalltrichter (wohl auch Überlauftulpe genannt), eine kleine Rarität: Ist der Damm voll, fliesst das Wasser in einem großen Strudel durch den Abfluss nach unten. Doch dieses Mal war der Damm weit davon entfernt, überzulaufen. Doch der Ausblick auf die Berge hinter und neben dem See ist fantastisch. Hier sieht man auch Teile des Mourne Walls, einer 1,5 Meter hohen Granitmauer, die man Anfang des 20. Jahrhunderts angelegt hat, um Viehzeug davon abzuhalten, in das Einzugsgebiet des Trinkwasserstaudamms zu laufen. Diese Mini-Version der Chinesischen Mauer ist über 30 Kilometer lang, bis zur Fertigstellung brauchte man 18 Jahre.
Nach einem ausgiebigen Spaziergang geht es weiter – zuerst etwas an der Küste entlang. Das Wetter ist so gut, dass man sogar die Wicklow-Berge südlich von Dublin sehen kann. Nach ein paar Kilometern wunderschöner Landschaft geht es von der Küste landeinwärts, schnurstracks nach Norden. Unterwegs nimmt die Farbe Orange immer mehr zu – die Farbe der Protestanten bzw. Anglikaner, die hier in der Mehrheit sind. Die Straßen sind mit dem Union Jack und dem Ulster Banner, einer Version des St. Georg-Kreuzes mit Wappen, und dergleichen geschmückt. Hier und da hängen Bilder der späten Queen Elizabeth 2 und von King Charles, zum Teil mit dem Schriftzug »Obey the king« geschmückt. Das hat seinen Grund – drei Tage später, am 12. Juli, wird in den protestantischen Gebieten der »Orangemen’s Day« mit ausgiebigen Paraden gefeiert – mit ihnen soll dem Sieg Prinz Wilhelm III. von Oranien über seinen Schwiegervater, König Jakob II. bei der Schlacht am Boyne gedacht werden. Wilhelm III war Protestant, sein Widerpart Katholik. Für die Protestanten war die Schlacht von 1690 der Grundstein für ihre Vorherrschaft in Nordirland und die Farbe Orange (Oranien = Orange) ist seitdem allgegenwärtig. An Flaggen mangelt es in dieser Region auf jeden Fall nicht – viele von ihnen sind schön auf dieser Seite hier beschrieben.
Irgendwo unterwegs halte ich an und kaufe in einem Kiosk einen Kaffee. Wie auch in Irland muss man dazu einen »Americano« bestellen – letztendlich ein Espresso, in den man viel heißes Wasser giesst. Das ist besser als Instant-Cafe, aber meistens doch nicht das Gelbe vom Ei. Ich verlege mich deshalb darauf, so ich nicht wirklich einen Espresso möchte, einen solchen mit »nur einem bisschen heissen Wasser« zu bestellen. Dabei fällt mir auf, dass ich noch gar nicht im Besitz britischer Pfund bin, aber das ist auch in Nordirland kein Problem – man kann so gut wie überall ganz reibungslos mit Apple/Google Pay bezahlen. Die Frau am Tresen entschuldigt sich noch dafür, dass der Kaffee bzw. Espresso so viel kostet – zumindest vermeine ich, das rauszuhören, denn ihr Dialekt erinnert lediglich ein bisschen an Englisch, das war es aber auch schon. Möglicherweise sprach sie das berühmt-berüchtigte Ulster-Scots – eine Variante des Schottischen.
Bis Belfast komme ich gut durch, auch die Unterkunft ist schnell gefunden – eine Mischung aus AirBnb und Hotel, in einer schönen Seitenstrasse unweit des Bahnhofs Botanic. Das Check-in ist schnell erledigt, das Zimmer im Prinzip akzeptabel und das Hotel in etwa so, wie es Bill Bryson in seinem Roman »Notes from a small island« beschreibt: Von außen sieht es nach einem kleinen Haus mit maximal 4 Zimmern aus – doch kaum ist man drin, verirrt man sich ganz schnell ob der eigentlichen Größe des Etablissements. Ich finde dann aber doch sofort, nach keinen 2 Minuten, wieder raus, denn es ist bereits fast um 5 Uhr, und ich möchte noch einen ausgiebigen Spaziergang durch die Stadt machen. Sicher, ich könnte die Stadt auch mit dem Auto abfahren, aber das ist die ungünstigste Art, den Flair einer Stadt aufzunehmen. Und Belfast hat in Sachen Atmosphäre sehr viel zu bieten.
Rund um den Bahnhof Botanic geht es relativ neutral zu. Das Zentrum, rund 1 bis 2 Kilometer weiter nördlich, sieht beinahe ein bisschen amerikanisch aus mit seinen hohen Häusern und breiten Straßen. Aber es ist lediglich ein weiteres Stadtzentrum. Ich laufe weiter, Richtung Nordosten – mein Ziel sind die Stadtviertel bzw. Gegenden The Falls Road und Shankill. Die beiden Viertel werden durch den Cupar Way – und einen gewaltigen Zaun getrennt. Denn diese Gegend stand von den 1960ern bis 1990ern im Mittelpunkt der euphemistisch »The Troubles« genannten Zeit, als sich Protestanten und Katholiken in einem blutigen, fast bürgerkriegsähnlichen Konflikt bekämpften – mit tausenden von Toten. In meiner Kindheit gab es des Öfteren Nachrichten darüber – und es war für mich immer schwer begreifbar, worum es da überhaupt geht. Heute habe ich eine bessere Idee – aber es bestärkt mich in meinem Glauben, dass Fanatismus nie gut sein kann, egal in welcher Form.
Ich bin mittlerweile in der Nähe der Falls Road – ganz offensichtlich das katholische Viertel, denn ich stehe plötzlich vor dem Hauptbüro der Sinn Féin, früher immer als politischer Arm der IRA bezeichnet, doch so einfach ist die Sache gar nicht. Die Partei spaltete sich ein Mal im Jahr 1921 – ein Teil unterstützte den Anglo-Irischen Vertrag, der andere Teil nicht, was letztendlich sogar dazu führte, dass die beiden Seiten das Land von 1922 bis 1923 in einen Bürgerkrieg stürzten. Die Pro-Treaty-Seite gewann, doch die Partei verschwand wenige Jahre für Jahrzehnte in der Versenkung. Ein zweites Mal spaltete sich die Partei 1969 – ein Teil (»Official«) war gegen die Anwendung von Gewalt, um die Katholiken in Nordirland zu beschützen, der andere (»Provisional«) war dafür. Die IRA spaltete sich ebenso. In Großbritannien war die Sinn Féin bis 1974 verboten, da man davon ausging, dass die Partei stark mit der IRA verbunden ist. Heute (=im Jahr 2024) ist Sinn Féin mit 27 Sitzen gar die stärkste Partei in Nordirland, knapp gefolgt von der DUP (Democratic Unionist Party, pro-britische, protestantische Partei) mit 25 Sitzen. Zusammen mit zwei anderen Parteien regieren die beiden Parteien zusammen das Land. Die Zahl der Sitze ist ein Spiegel der Bevölkerung von Nordirland – hier sind die Katholiken ebenfalls leicht in der Überzahl.
Der Anglo-Irische Vertrag von 1921 ist dabei der Schlüssel zum Verständnis von Nordirland – die Sinn Fein stimmte nämlich damals zu, dass 6 der insgesamt 32 irischen Counties, so sie es wünschen, aus dem Freistaat Irland ausscheren können – ein Zugeständnis an die Protestanten, das vielen Iren nicht schmeckte. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998, sowohl von Nordirland als auch von Irland akzeptiert, herrscht zum Glück Ruhe in Nordirland, doch 100%ig gelöst ist der Konflikt sicherlich nicht – so besagt das Abkommen, dass eine Wiedervereinigung mit Irland möglich ist, so sich mehr als die Hälfte der Nordiren dafür aussprechen sollte. Das dürfte jedoch, falls es wirklich dazu kommen sollte, wieder extremistische Kräfte auf den Plan rufen. Der Brexit im Jahr 2020 hätte beinahe dazu beigetragen, denn eine erneute, tiefere Spaltung von Nordirland und Irland war im Gespräch. Doch lange Verhandlungen vermieden das Ärgste – man kann sich nach wie vor völlig frei bewegen. Aber der Brexit führt unter anderem dazu, dass zum Beispiel für Irland bestimmte Fracht, die im wichtigen Hafen von Belfast angekommt, gesondert abgefertigt werden muss. Allein dieser Teilverlust der Zolloberheit sorgte bereits für einigen Protest.
Doch zurück zu The Falls Road: Auffällig ist, dass hier alles sehr sauber und gepflegt ist. Und man sieht überall palästinensische Flaggen, was auch in Irland der Fall war. Ganz offensichtlich sympathisieren sehr viele Iren (und katholische Nordiren) mit den Palästinensern, die seit fast einem Jahr infolge eines brutalen Überfalls der Hamas auf Israel im Herbst 2023 unter einem gnadenlosen Krieg mit vielen zivilen Opfern und einer katastrophalen Versorgungslage leiden. Sehr wahrscheinlich ziehen die Iren hier Parallelen zur eigenen Geschichte: Bis vor 100 Jahren von der britischen Krone unterjocht, Hunger als Waffe, Zerstörung der eigenen Identität usw. Später sollte mich ein irischer Freund fragen, ob ich auf der protestantischen Seite israelische Flaggen gesehen hätte – das konnte ich so nicht bestätigen, was mit der Bemerkung »da stecken die wohl in der Zwickmühle… sie wollen bestimmt die israelische Seite unterstützen, aber ihr Antisemitismus verbietet das«
Am Sinn Fein-Büro fällt sofort ein haushohes Wandbild (auf englisch »mural« genannt) auf – davon gibt es hier sehr viele, und die meisten sind sehr patriotisch bis militärisch. Das an diesem Haus ist Bobby Sands gewidmet, ehemaliger Parlamentsangehöriger und jemand, der bei einem Hungerstreik sein Leben verlor. In den Gassen hinter dem Haus gibt es zahlreiche weitere Gedenkstätten, allesamt sehr gepflegt, wie auch die vielen kleinen Ziegelhäuschen. Die Straßen sind blitzsauber und adrett. Und dann kommt der große, grüne Zaun, der unweigerlich an die Berliner Mauer erinnert. Hier befindet sich auch die kleine Bombay Street, eine kleine Gasse, die 1969 von einem protestantischen Mob Haus für Haus in Brand gesteckt wurde. Die britische Armee, die kurz zuvor in Nordirland einmarschiert war, um den Konflikt zu beenden, wurde bis dahin auch von den Katholiken als Retter angesehen, doch das änderte sich nach den Ereignissen in Bombay Street. Ein Wandbild erinnert daran und sagt »Bombay Street Never Again«. Gleich um die Ecke befindet sich der »Clonard Martyrs Garden«, eine ebenfalls sehr gepflegte Anlage, in der die katholischen Opfer der »Troubles«, darunter auch viele Kinder, aufgelistet werden.
Will man zu Shankill, der protestantischen Seite jenseits des Zauns, muss man einen ziemlichen Umweg machen – man läuft zum Lanark Way, wo sich eine heute stillgelegte und mit einem bedeutungsvollen Graffiti verzierte Straßensperre befindet. Von dort sind es nur ein paar hundert Meter zur Shankill Road – und hier sieht alles ganz anders aus. Heruntergekommen. Es erinnert ein bisschen an eine amerikanische Suburb mit Problemen. Einige Häuser sind verfallen, einige Geschäfte für immer geschlossen, es ist ein bisschen schmutziger. Die Wandgemälde sind martialischer – manchmal stark militaristisch, manchmal schlicht martialisch, mit so gut wie keiner Spur von Versöhnung. Das liegt aber auch daran, dass hier gerade die Vorbereitungen für den Orange Walk laufen, denn die vielen Flaggen tragen massgeblich zur leicht furchteinflössenden Atmosphäre bei. Ein paar Gebäude fallen in der Shankill Road besonders auf – darunter die leerstehende und vor sich hinverwitternde Nelson Memorial Church (laut jüngster Information wurde dieser leerstehende, massive Prachtbau von 1887 nun für nur 175’000 Pfund verkauft…) sowie die »Bar Berlin« gleich in der Nähe – diese ist nicht mehr in Betrieb. Nur wenige Häuser weiter entfert befindet sich das Bayardo Somme Memorial – dort wird 5 Protestanten, ermordet von der IRA, gedacht – dahinter ist eine Hauswand vollgepflastert mit teilweise sehr neuen Plakaten mit schockierenden Fotos verschiedener Bombenattentate – auch von jüngeren Ereignissen – mit den Vermerken »IRA – Sinn Fein – ISIS no difference« und anderen Parolen. Das Narrativ ist klar: Hier wird die Sinn Fein als Bande von Verbrechern dargestellt, die der IRA in nichts nachsteht. Versöhnung und rhetorische Abrüstung sieht jedenfalls anders aus.
Irgendwann bemerke ich, dass ich nun schon fast wieder 15 Kilometer gelaufen bin – es ist bereits 20 Uhr und noch völlig hell. Wenn man in Japan wohnt, muss man sich erstmal daran gewöhnen, denn dort ist es selbst im Sommer um 19 Uhr zappenduster. An einer Tankstelle in Richtung Innenstadt mache ich eine kurze Rast – und hebe sicherheitshalber 50 Pfund ab. Und siehe da – auch die nordirischen Banken drucken alle ihre eigenen Geldscheine. Für Geldsammler wie mich Freud’ und Leid zugleich – denn das Geld kann ich nun nicht ausgeben, da ich es ja sammle. Freude natürlich auch, schließlich wächst meine inzwischen stattliche Sammlung von Geldscheinen und Münzen in letzter Zeit kaum noch, da fast alle nur noch mit eMoney bezahlen. Für Besucher sind die nordirischen Geldscheine jedoch durchaus ein kleines Problem, da kaum eine Bank außerhalb von Nordirland diese Scheine akzeptiert. Egal. Nach einem Kaffee geht es weiter, wieder zurück in die »neutrale« Innenstadt und bis Botanic, immer die dunklen Regenwolken in Augen. Kurz ein Feierabendbier kaufen ist gar nicht so einfach – man muss nicht nur einen kleinen Lebensmittelladen finden, sondern auch einen, der »off licence« verkauft. Wie in Irland. In einer abgesonderten Ecke, mit Schranken versehen, gibt es dann alkoholische Getränke, wobei die Preise, zumindest verglichen mit Deutschland, spürbar höher sind. Aber das ist noch gar nichts im Vergleich zu den Zigarettenpreisen – in Nordirland kosten diese ab 13 Pfund, in Irland sogar gut 17 Euro. Zum Vergleich: In Japan kostet eine Packung weniger als 3 Euro.
Dem Regenguss entkomme ich nicht ganz, aber die Unterkunft ist nur noch 100 m entfernt. Schnell die Sachen abgelegt und unter die Dusche… besetzt. Nun gut, dann muss ich eben warten. Ja, für 79 Pfund bekommt man ein halbwegs akzeptables Zimmer. Aber keins mit eigenem Bad.
Die fast 20 Kilometer Laufen und das viele Fahren und die zahlreichen Eindrücke machen hungrig. Fish & Chips? Nicht schon wieder. Zumal es rund um den Bahnhof Botanic ohnehin eher international zuzugehen scheint. Griechisch! Das wäre doch mal wieder was, denn in Japan gibt es so gut wie keine griechischen Restaurants. Nach einer Weile warten werde ich platziert, und nach weiteren mehr als 5 Minuten bekomme ich sogar eine Speisekarte. Ein Blick um mich herum offenbart, dass scheinbar viele Kunden mit recht unzufriedenem Gesicht auf ihr Essen zu warten scheinen. Und die Bedienung macht auch keine Anstalten, meine Bestellung aufzunehmen. Dann gehe ich wohl mal lieber… zu einem arabischen Restaurant. Die kein Essen mehr haben. Okay, Indisch dann eben, im »Bite of India Botanic« – und das sollte ich nicht bereuen, es ist fantastisch und kostet insgesamt rund 15 Pfund, was für die Qualität mehr als in Ordnung ist. Später komme ich noch mit dem Besitzer des Restaurants in ein längeres Gespräch – ein sehr angenehmer Zeitgenosse aus dem Süden von Indien.
Danach geht es zu einem Pub – auch hier ist fast schon alles automatisch. QR-Code gescannt, dann zum Bezahlen: Der Bezahllink wird dann mit SMS geschickt, aber das funktioniert bei mir nicht, da meine eSIM zwar unbegrenzt Internetzugang bereitstellt, aber Anrufe oder der Empfang von SMS geht nicht. Aber die netten Angestellten können helfen. Der Pub ist sehr voll, alle sind in großen Gruppen da und am Tresen ist kein Platz – nach einer Pinte bin ich wieder draußen. Auf der anderen Straßenseite befindet sich ein weiteres, sehr interessant aussehendes Etablissement: Die Belfast Empire Music Hall. Der imposante Bau aus dem Jahr 1879 erinnert ein bisschen an eine Kirche, doch dies war schon immer eine »Music Hall« – in dieser dreistöckigen Bar gibt es Live-Music, manchmal Comedy und manchmal einfach nur was zu trinken – der Bau hat jedenfalls Atmosphäre. Hier geht es hoch her. Ich lerne bald einen Neuseeländer kennen, der irgendwann nach Nordirland ausgewandert ist (ja, auch so etwas gibt es). Und habe mit ihm, dem sehr amüsanten Barkeeper und noch ein paar Stammkunden meinen Spaß. Wir kommen auch kurz auf die anstehenden Orange Parades zu sprechen – und der (irische) Bartender bestätigt, dass er an diesem Tag immer »seriously scared« ist – das kann ich mir gut vorstellen.
Auffällig sind die vielen, gut trainierten Türsteher – dabei sieht hier alles ziemlich friedlich aus, und ich fühle mich weit sicherer als in einigen Teilen von Dublin. Ich frage einen Bouncer, wen er denn versucht draußen zu halten. Die Antwort: Betrunkene. Ich frage nach wie es mit Drogenabhängigen aussieht – die Antwort: »DIe gibt es eigentlich kaum. Aber die Drogen kommen allmählich auch hier an«.