Ein neuer Tag. Er beginnt mit einem kurzen Abstecher zum Aufenthaltsraum des Hotels, dem »Botanic Rest Queens Quarter«, denn dort gibt es wohl ein »complementary breakfast« – kein komplett Englisches, versteht sich, aber dafür ein paar Scheiben Toastbrot sowie Kaffee, der in einer mit »Tea« beschrifteten Kanne wartet, und Tee, der in einer mit »Coffee« beschrifteten Kanne wartet – ein anderer Gast warnt mich vorsorglich. Nun, die schwärzliche Flüssigkeit in der Teekanne war sicher kein Tee, aber soweit zu gehen, dass als Kaffee zu bezeichnen, konnte ich nicht gehen. Egal. Aber nach dem Auschecken musste es erstmal ins Stadtzentrum gehen, denn dort ist ein Waschsalon, betrieben von einer Polin. Wäsche rein, bezahlt – und erstmal 40 Minuten. Die Zeit nutze ich, zum ein paar Kilometer entfernten »Titanic Belfast« – Museum bei den Werften zu fahren. Leider habe ich nicht genug Zeit, um das sehr moderne Museum zu besuchen, aber eine kurze Rundfahrt entlang der noch immer genutzten Werften – so war auch gerade ein riesiges Schiff im Trockendeck zu sehen – war sehr eindrucksvoll. Belfast war als Schiffbaustandort so wichtig, dass Nazideutschland schwere Bombenangriffe auf die Stadt flog – die Bombardements wurden und werden »Belfast Blitz« genannt. Nun sind die 40 Minuten aber um, also geht es wieder zur Automatenwäscherei, um die Sachen in den Trockner zu bugsieren. Neben mir sind nur ein paar osteuropäische Familien im Salon. Automatenwäschereien sind für mich jedes Mal der beste Beweis dafür, dass das Geld nur zu dem kommt, der schon welches hat: Manche Familien sind so arm, dass sie sich keine Waschmaschine leisten können, also benutzen sie Münzwaschautomaten. Die sind aber so teuer, dass es lange dauert, bis man sich endlich eine eigene Waschmaschine – mit der man sich dann sehr viel Geld sparen kann – leisten kann.
Die Verkehrsbüttel in Belfast scheinen wirklich auf Trab zu sein: Die Parkplätze vor der Wäscherei, der Name »Spin City Belfast« hat einen Preis verdient, sind »loading only«, man darf nur 5 Minuten parken. Nach 6 Minuten steht ein Polizist neben meinem Auto – ich sage ihm, dass ich auf meine Wäsche warte, die in 2 Minuten fertig ist. Er kämpft mit sich selbst, dass kann ich an seinem Gesicht sehen, aber ich sage ihm, dass es okay sei – ich werde einfach eine Runde drehen und dann wieder zurückkehren. Das mache ich auch und lande in einer Seitengasse mit ein paar Obdachlosen, die mich und meinen roten Seat aber ignorieren.
Die Wäsche ist endlich, endlich fertig – und los geht es, Richtung Norden, zum Giant’s Causeway. Der Name dieser Sehenswürdigkeit hatte sich in der Schule aus irgendwelchen Gründen ins Gehirn eingebrannt, wahrscheinlich während wir einen Video-Englischkurs mit »Peter, Paul and Mary«, in schwarz-weiß wohlgemerkt, sahen. Das war vor der Maueröffnung, und ich versprach damals mir selbst, dass ich irgendwann dorthin fahre. Nun, das mache ich jetzt. Warum weiss ich auch nicht ganz genau, denn Basaltformationen wie am Giant’s Causeway gibt es in Japan auch hier und dort. Meist auch mit weniger Touristen.
Von Belfast sind es bis dorthin nur 60 Meilen bzw. weniger als 100 Kilometer. Dank der Autobahn M5 bin ich schnell aus der Stadt (die ja nur rund 300’000 Einwohner hat, aber irgendwie größer aussieht) – dann geht es auf die M2, die ich keine 30 Minuten später bei Antrim verlasse. Auf Landstrassen geht es weiter, gen Norden, mit wenig Verkehr und nur gelegentlichen Kreisverkehren, an die ich mich schnell gewöhne – anfangs dauert es ein bisschen, da Kreisverkehre in Japan so gut wie unbekannt sind, aber man fuchst sich schnell rein. Zwischendurch gibt es einen typischen kurzen Regenschauer, aber ansonsten scheine ich großes Glück zu haben: Blauer, klarer Himmel mit geringer Beschafung, dazu erfrischende 15 Grad. Und nach weniger als 1.5 Stunden bin ich tatsächlich am Ziel – an der Nordküste. Ein Parkplatz ist auch schnell gefunden, und nach einem Aderlass von gut 10 Euro kann ich loslaufen, Richtung Klippen. Scheinbar gibt es zwei Wege – einen oberhalb der Klippen, den anderen unten, an der Küste, wo sich auch die berühmten Basaltformationen befinden. Ich bin dabei nicht allein – es gibt ziemlich viele Touristen – die meisten einheimisch, aber scheinbar auch viele Spanier und Südamerikaner (Irland scheint bei Spaniern und spanisch-sprechenden Südamerikanern als Auslandsstudium-Destination ziemlich beliebt zu sein). Aber das Gelände ist relativ weitläufig, und von der eigentlichen Attraktion, einer langen Reihe sechseckiger Basaltsäulen einmal abgesehen, verläuft sich die Menge. Der obere Weg zweigt irgendwann ab – man kann entweder weiter oberhalb laufen oder den Weg abwärts zur Küste nehmen. Das mache ich auch und laufe bis zum nächsten Landvorsprung, hinter dem eine zauberhafte kleine Bucht wartet. Dort geht es aufgrund massiver Wegeschäden nicht mehr weiter, aber vielleicht ist das auch ganz gut so, denn so kann man die Bucht ganz ohne Menschen, dafür aber mit zahlreichen dort brütenden Vögeln geniessen.
Die saftig-grünen Wiesen, der strahlend-blaue Himmel, die kargen, ebenfalls grünen und völlig baumfreien Felsen, das smaragdgrün- bis bläuliche, klare Meer, die ersten schottischen Inseln am Horizont im Nordosten und die Nordwestspitze Irlands im Nordwesten – ich bin begeistert. In Sachen spektakuläre Küsten bin ich durch Japan sehr, sehr verwöhnt, denn dort gibt es fast alle Küstenformen, aber diese Küste hier bei Bushmills ist mindestens genauso fantastisch. Aber ich muss auch irgendwann mal weiter, zumal sich am Horizont wieder massive Regenwolken nähern. Es geht also wieder zurück, am großen Park- und Touristensammelplatz vorbei zu meinem kleineren Parkplatz, der Teil eines Künstlerkollektivs zu sein scheint – hier gibt es ein paar kleine Ateliers und natürlich auch einen Verkaufsraum. Ich werfe das Auto an und gebe den nächsten Zielort ein: »The Dark Hedges« ein kleiner Landweg mit recht seltsam verwachsenen Bäumen, bekannt als Drehort für die Game of Thrones-Series. Überhaupt scheint es zahlreiche berühmte Drehorte für Fantasyfilme und -serien in Irland zu geben, von Harry Potter bis Lord of the Rings, Game of Thrones und zahlreichen anderen Werken ist wohl viel in Irland entstanden, und das kann man sich angesichts der Landschaft gut vorstellen.
»The Dark Hedges« liegt nur rund 30 Minuten mit dem Auto von der Küste entfernt und ist scheinbar ein großer Touristenmagnet. Hätte ich mich vor der Fahrt nach Nordirland etwas mehr belesen, hätte ich es gewusst, aber manchmal lässt man sich eben gern auch mal überraschen. Aber vor einem weiteren Spaziergang muss ich erstmal meinen Hunger irgendwie stillen, der sich nach der ausgedehnten Küstenwanderung in einen ausgewachsenen Kohldampf verwandelt hat. Doch mit Geschäften und Restaurants ist hier nicht allzu viel – erst direkt bei den »Dark Hedges« gibt es ein großes Hotel, in dem man auch was essen kann, und der Laden Ost offensichtlich ganz auf große Busgesellschaften abgestimmt – sprich, so konzipiert, große Mengen von Leuten möglichst schnell abspeisen zu können. Geschmacklich geht das selten gut – für 15 Pfund kann ich einem Angestellten befehlen, womit er den Teller zu füllen habe, und alles schmeckt irgendwie ein kleines bisschen nach Schulspeisung. Aber es erfüllt seinen Zweck. Danach geht es an einem kleinen, aber feinen Gutshaus mit sehr gepflegtem Garten zu den Dark Hedges, die keine 300 Meter entfernt liegen. Dabei handelt es sich um ein paar Dutzend Bäume, die im Laufe der Jahre so beschnitten wurden, dass die großen, hellen und sehr kräftigen Äste einen regelrechten Tunnel über dem kleinen Weg bilden. Das sieht in der Tat etwas gespenstisch und mysteriös aus. Die Kunst ist hier nun, den Weg und die Bäume so zu fotografieren, dass nicht überall Menschen im Weg rumstehen, was gar nicht so einfach ist. Auf jeden Fall empfiehlt sich hier ein gutes Teleobjektiv, denn nur so kann man die ganze Pracht wirkungsvoll aufnehmen.
Ein älteres holländisches Paar versteht die Lage und versteckt sich flink hinter einem Baum, als ich ein Foto machen will. Ich komme mit ihnen ins Gespräch – sie erinnern mich an den Auftrag, den ich einst von meinem damaligen Arbeitgeber im Jahr 2005 erhielt: »Unterrichten Sie ein paar Wochen ein paar Jugendliche in Englisch und Niederländisch«. So weit, so gut – doch ich konnte kein Niederländisch, aber da sich sonst niemand finden liess, nahm ich das wohl oder übel als Herausforderung an… mit dem Ergebnis, dass ich abends wie ein Besessener Holländisch lernte, um das Erlernte dann am folgenden Tag zu unterrichten. Ich hatte die Schüler zwar gewarnt, dass sie mich nicht nach bestimmten Vokabeln fragen sollten, aber sie taten es natürlich trotzdem: »Was heißt Frühstück«? »Öhmmm…«. Natürlich schlug ich das und andere Wörter natürlich später nach, und dank dessen habe ich es bis heute nicht vergessen: »Ontbijt«. Den allerwichtigsten Satz zumindest konnte ich damit meinen Schülern vermitteln: »Ik spreek bijna geen nederlands«.
Und weiter geht es, gen Westen. In der kleinen Stadt Coleraine mache ich bei einem Einkaufszentrum halt, um ein paar Souvenirs zu besorgen: Ein paar Newkies zum Beispiel (Newkie = Newcastle Brown Ale), Lieblingstrunk meiner Göttergattin, aber seit Jahren nicht mehr im japanischen Handel zu finden. Und ein paar Shortbreads und Biscuits. Das ist gar nicht so einfach – Newkies finde ich nach einer Weile, auch Shortbreads, aber richtig gute Biscuits finde ich weder bei Sainsbury’s noch bei Marks & Spencer. Mittlerweile wurde aus den gelegentlichen Regenschauern richtig ungemütlicher und kalter Landregen – also nichts wie weg, weiter gen Westen, nach Londonderry. Dieser Name wird zumindest auf den meisten Landkarten gebraucht, doch für die Iren ist es einfach »Derry«. Die Stadt sieht recht interessant aus, so zumindest der erste Eindruck bei einem Spaziergang am Fluss, doch ein Blick auf die Navi sagt mir, dass ich mich zeitlich scheinbar verrechnet habe – eigentlich wollte ich um 18 Uhr bei einem alten Freund und ehemaligem Kollegen in Bundoran an der Nordwestküste aufschlagen, doch es war bereits 17 Uhr, und die Navi offenbarte, dass es mindestens 90 Minuten dauern würde. Da es egal zu sein schien, ob ich die großen Straßen, die mich auch durch größere Städte geführt hätten, oder kleine Landstrassen nehme, entschied ich mich für letztere, und so ging es über Strabane, Castlederg und Belleek nach Bundoran. Besonders schön erschien mir die Gegend am Lower Lough Eme, einer stark zergliederten Seelandschaft mit unzähligen Inseln im äußersten Westen von Nordirland. Auch hier war die Grenze zu Irland komplett »grün«, man nimmt sie einfach nicht war.
Das Haus meines Freundes fand ich problemlos am Stadtrand von Bundoran, einem beliebten Sommerkurort an der Atlantikküste. Besagter Freund war wie ich Englischlehrer an einer Privatschule, und nicht selten trafen wir Lehrer uns zum einen oder anderen Pint am Abend. Die Privatschule organisierte auch Dinge wie Sprachunterricht unter Lehrern – mein irischer Freund gab dann eine Einführung ins Gälische, eine teuflisch-komplizierte Sprache, bei der gefühlt die Hälfte der geschriebenen Buchstaben gar nicht ausgesprochen werden, während ich eine Einführung ins Japanische gab und so weiter… ein sehr interessantes Konzept, wurde man so doch als Sprachlehrer ganz schnell in die Schülerrolle gebracht.
Nach einem längeren Plausch ging es zu einem abendlichen Spaziergang durch die schöne Stadt, in einen typisch irischen Pub – natürlich mit Musik – und hernach in eine Hotelbar – die Unterhaltung mit einem Stammkunden und dem sehr illustren Bartender gab tiefe Einblicke in das heutige Leben und was sich so alles in Irland verändert hat. In der Tat – aus dem tiefkatholischen Irland mit vielen bitterarmen, zum Teil gar unterernährten Menschen (Frank McCourt schilderte das recht eindrucksvoll in seinem Roman Angela’s Ashes) ist innerhalb weniger Jahrzehnte, in Sachen Glauben gar wenigen Jahren, ein »wokes« Land geworden, in dem plötzlich überall Regenbogen- und andere Fahnen wehen, ein Land, in dem viele Jugendliche extrem übergewichtig sind – aber auch ein Land, dass aufgrund seines starken Wirtschaftswachstums, auch bzw. vor allem im IT-Bereich, als keltischer Tiger bezeichnet wird. Wir kommen auch auf das Alter und andere Sachen zu sprechen, und stellen fest, dass man in jungen Jahren oft »was wollen die Bullen hier? Weg mit denen!« Dachte (oder gar brüllte), während man 30 Jahre später nicht selten dankbar ist, wenn die Polizei aufkreuzt. Nun ja, wie man sich mit den Jahren eben ändert.
Nach 1 Uhr sind wir wieder zu Hause, und wir lassen den Abend vor dem Kamin (den wir tatsächlich in Gang setzen, im Juli!) mit einem Glas »P«-Whiskey ausklingen. Bis wir dann gegen 4 Uhr morgens uns in die Betten begeben. Bis 4 Uhr morgens um die Blöcke ziehen beziehungsweise irgendwo gemütlich mit Freunden zusammensitzen und trinken ist etwas, was ich durchaus in Japan ein bisschen vermisse…