Und schon bricht ein neuer Tag an – auch dieses Mal habe ich mir für diesen Tag einiges vorgenommen – spätestens um 17 Uhr muss ich an der Fähranlegestelle in Doolin sein, um auf die Aran-Inseln überzusetzen, denn dort befindet sich meine nächste Übernachtung. Von Bundoran sind dies rund 250 Kilometer, und auf dem Weg dorthin will ich mir auch noch die Stadt Sligo und was sonst noch auf dem Weg liegt ansehen. Mein Freund verabschiedet mich mit den Worten »hoffentlich hält dich die Polizei nicht an und lässt dich in den Breathalyser pusten…«. Recht hat er – es ist 10 Uhr morgens und die Pints und der Whiskey sind wahrscheinlich noch nicht zu 100% abgebaut. Zwar habe ich mich bei beiden zurückgehalten, aber ich hoffe trotzdem, dass mir genau das nicht geschehen wird.
Nach einer kurzen Tankstellenrast mit neuem Kaffee und einem kleinen Snack bin ich schnell am Benbulbin angelangt – einem faszinierenden Tafelberg zwischen Bundoran und Sligo. Von Drumcliffe auf halbem Wege hat man einen hervorragenden Blick auf diese immer wieder beeindruckende Bergform – zumal hier die oberste Schicht des Berges schön regelmäßig erodierte. In Drumcliffe gesellt sich zum Gesamtereignis auch noch ein altes Kloster mit einem schönen, alten Friedhof, auf dem sich unter anderem das Grab des Dichters W. B. Yeat befindet. Das Epitaph auf seinem Grab stammt – passenderweise – von seinem Gedicht »Under Ben Bulben«, der englische Name für den Tafelberg. Yeat war einer der bedeutendsten irischen Dichter des 20. Jahrhunderts – aber seine Bekanntheit reicht weit über Irland hinaus, wie man an den zahlreichen ausländischen Besuchern des Grabes unschwer erkennen kann.
Obwohl der Benbulbin geradezu danach ruft, bestiegen zu werden, erlaubt dies die Zeit nicht – ich fahre also ein paar Kilometer weiter nach Sligo, einem Provinzzentrum mit knapp 20’000 Einwohnern und einer zugegebenermaßen ziemlich schnuckligen Innenstadt, die nicht nur mit einem netten Flüsschen im Zentrum, sondern auch mit einer sehr interessanten Ruine einer Abtei aufwartet. Genauer gesagt war das eigentlich ein Dominikanerkloster, gegründet im 13. Jahrhundert, und gebaut im normannischen Stil, wobei später gotische Elemente hinzukamen. Nach knapp zwei Stunden hat man das Gefühl, alles gesehen zu haben, und so ging es weiter Richtung Süden. In einem kleinen Kaff unterwegs mache ich halt um meinen Hunger zu stillen – und ich mache den Fehler, in einem typischen Pub Pasta Carbonara zu bestellen. Keine Ahnung, warum ich immer wieder drauf reinfalle, denn in den meisten Fällen schmeckt sie nicht, aber hier war sie besonders schlimm. Andererseits kann man auch nicht die ganze Zeit traditionell irische Gerichte wie Fish & Chips, Irish Stew, Irish Breakfast oder Hamburger (klar, nicht traditionell aber in diesen Tagen allgegenwärtig) essen. Ich jedenfalls nicht.
Das Wetter sah am Anfang noch etwas schlecht aus, doch je weiter ich gen Süden fuhr, desto besser wurde es. Allerdings bemerkte ich bald, dass ich gar nicht so viel Zeit habe, wie ich dachte – ganz im Gegenteil, ich musste mich allmählich sputen, um es zur Fähre zu schaffen. Nur noch ein kurzer Aufenthalt war jetzt drin – an der Burg Dunguaire, direkt an der Bucht von Galway. Doch es ist schon nach 16 Uhr, und die Fähre legt um 17 Uhr ab — jetzt muss es wirklich zügig gehen. Wären da nicht all die Schleicher vor einem, die bereits auf 20 km/h runterbremsen, wenn sie nur einen Bus aus weiter Entfernung sehen. Die Straße führt hier durch The Burren, eine grandiose Karstlandschaft, die vor allem durch die großen, komplett kahlen Berge auffällt, auf denen in losen Reihen große Kalksteinbrocken liegen. Wie gerne würde ich hier und da anhalten und wenigstens ein Foto machen, aber es geht zeitlich einfach nicht. Immerhin schaffe ich es und erreiche die Fähranlegestelle gegen 16:45. Ein Parkplatz ist relativ schnell gefunden, wenn auch etwas weiter entfernt, aber immerhin ist er kostenlos. Schnell die Tasche gepackt, zur Ablegestelle gerannt – nur um zu erfahren, dass die Fähre rund 45 Minuten Verspätung hat. Na toll.
Die Aran-Inseln sind eine Inselgruppe in der Bucht von Galway – sie liegen nur ein paar Kilometer vom Festland entfernt und sind deshalb an den meisten Tagen gut vom Festland aus sichtbar. Drei Inseln sind relativ groß und bewohnt, der Rest sind eher Felsen und kleine Eilande. Inishmore, Inishmaan und Inisheer heissen die drei, mit zusammen gerade Mal rund 1200 Einwohnern. Die Inseln gehören zur »Gaeltacht«, einem losen Verbund von Sprachinseln, in denen das Gälische (=Irische) dominant oder zumindest sehr stark verbreitet ist. Angeblich sprechen hier wohl sogar ein paar ältere Menschen so gut wie gar kein Englisch. Der Großteil der Gaeltacht befindet sich an den entlegenen, westlichen Ecken des Landes – am Ende von diversen Halbinseln. Im Osten hingegen ist Irisch kaum verbreitet.
Die kleine Fähre legt endlich ab – und man bekommt einen immer besseren Blick auf die berühmten Klippen von Moher, eine knapp 15 Kilometer lange Steilküste mit bis über 200 Meter hohen Klippen. Die eher flachen Aran-Inseln sind auch von Anfang an zu sehen, denn die Luft ist außergewöhnlich klar. Bis zur nächstgelegenen Insel, Inisheer, braucht die Fähre nur 15 Minuten, und dies soll auch meine Herberge für die kommende Nacht sein. Der Anblick von der Fähre ist bereits sehr eindrucksvoll – zuerst kommen ein Leuchtturm und ein großes Schiffswrack ins Bild, dann ein langer Strand, dahinter ein sanfter Hügel, und auf dem thronen diverse alte Ruinen. Kein einziger Baum ist zu sehen – dafür unzählige niedrige Steinwälle, die ein seltsam chaotisches Muster bilden.
Ich kann es kaum erwarten, die Insel zu erkunden. Endlich legen wir an, und direkt dort, wo der Pier beginnt, erblicke ich einen Fahrradverleih. Eine kurze Erklärung der Insel bekomme ich sofort gratis mit dazu. Keine 3 Minuten später bin ich an der Unterkunft – dem Lios Éinne House – angelangt. Ein hübsches Landhaus mit einem sehr sauberen Zimmer mit Blick aufs Meer. Im Zimmer: Ein Kaffeeautomat. Im Flur: Diverse Snacks, an denen man sich nach Bedarf vergreifen kann. Besser kann es nicht werden. Die sehr nette Besitzerin erklärt mir ebenfalls kurz die Insel, was bei knapp 600 Hektar Größe nicht allzu lange dauert. Dank der Erklärungen habe ich nun also bereits gelernt, dass es zwei Pubs gibt, die Essen anbieten – aber jeweils nur bis gegen 21 Uhr – sowie einen weiteren Pub, der länger geöffnet hat, aber kein Essen anbietet. Viel mehr muss ich erstmal auch nicht wissen.
Die Insel gehört zur Karstlandschaft von The Burren, wobei die letzte Eiszeit für ein regelrechtes Reset der Verkarstung sorgte. Die Eiszeit und die Zeit danach sorgte dafür, dass die Karstoberfläche in regelmäßigen Aufständen aufbrach und so zahlreiche Risse (hier »grikes« genannt) und isolierte Steinplatten (hier »clints« genannt) bildete, die nicht nur eine einmalige Landschaft, sondern auch ein veritables Habitat für allerlei Pflanzen und Tiere bilden: Hier findet man auf engem Raum arktische, alpine und mediterrane Pflanzen – wenn man von Pflanzen ein bisschen Ahnung hätte, doch das war der Teil, bei dem ich an der Schule wahrscheinlich am wenigsten aufgepasst hatte, denn mit Pflanzen hatte ich es noch nie so. Ich bin froh, wenn ich einen Nadel- von einem Laubbaum unterscheiden kann, alles andere sind für mich monophyllus ominensis.
Zuerst mache ich mich auf, den Osten der Insel zu erkunden. Der Ort liegt im Norden der Insel – von dort fahre ich an einem schönen, alten Friedhof vorbei zum Plassy Schiffswrack, das ganz im Osten der Insel seit 1960 vor sich hinrostet. Das Schiffswrack, welches dort wirklich ganz natürlich vor sich hin rostet, ist im Prinzip begehbar, wenn sicher auch gesunde Vorsicht geboten ist. Faszinierend ist, wie das Wrack bis hierher gekommen ist, denn es liegt nun wirklich weit oberhalb der Flutmarke, ohne dass jemand das Boot an Land gezogen hätte.
Der Süden der Insel ist komplett unbewohnt, aber es gibt einen Leuchtturm, sowie einige Wege, die strahlenförmig von der Inselmitte nach Süden führen. Ein Verbindungsweg entlang der Küste zwischen diesen Wegen fehlt jedoch. Laut Beschreibung der Fahrradverleiherin kann man jedoch das Fahrrad an einem Wegende abstellen und dann entlang der Küste laufen. Das hielt ich für umständlich – sicher kann man doch das Fahrrad bis zum nächsten Wegende schieben oder tragen. Bald stellte ich fest: Klar, kann man. Aber es ist ein wahrer Parcour-Kurs, denn der Süden der Insel ist von knie- bis schulterhohen, lose zusammengestapelten Steinmauern im Abstand von rund 10 Metern durchzogen, und teilweise von dornigen Büschen umrandet. Irgendwann habe ich aufgehört, die Mauern zu zählen, über die ich das Rad gewuchtet habe – wahrscheinlich in dem Augenblick, als mir ein ausgewachsener Bulle direkt ins Auge starrte. Zurückkehren war aber für mich keine Option, und so liess ich endlich die Mauern, die Kühe und die dornigen Büsche hinter mir, um dann endlich wieder aufs Rad steigen zu können. Empfehlen kann ich die Route allerdings nicht.
Die Ruinen in der Inselmitte – die »Church of the Seven Sisters«, An Tur Faire (eine Turmruine) und O’Brien’s Castle sind schnell erkundschaftet und ich habe alle Ruinen ganz für mich allein – genau wie den Blick auf das Meer, die Cliffs of Moher und die Nachbarinsel Inishmaan. Ich habe das Gefühl, jetzt wirklich in Irland angekommen zu sein. Genau das ist es. Genau das wollte ich sehen. Alles, was jetzt noch kommt, ist ein Bonus. Also tief durchatmen und mehrere Fotos mit dem geistigen Auge machen.
Nun ist es aber schon nach 8 Uhr abends, also mache ich mich besser auf den Weg zum Tigh Ruairi, auch »Rory’s Pub« genannt – ein ziemlich großer Pub, der durchaus anständige Speisen serviert – darunter auch einen passablen Salat, muss auch mal sein, mit Ziegenkäse aus der Region und Sauerteigbrot. Ein Gedicht. Schnell wieder zurück zur Pension, das Fahrrad abgestellt, und raus zu einem kleinen Spaziergang zur Küste, zum »Tigh Ned« (ganz offensichtlich bedeuted »Tigh« so viel wie »Pub«), welcher scheinbar ziemlich beliebt mit den Einheimischen zu sein scheint. Bei zwei, drei Pint höre ich den Einheimischen zu – eine hochinteressante Angelegenheit, zumal einige von ihnen wirklich auf Gälisch klönen. Gegen Mitternacht geht es die 2, 300 Meter wieder zurück zur Pension – und am Horizont ist es doch tatsächlich noch immer ein bisschen hell.