Im Januar/Februar 1999 flog ich zum ersten Mal nach Seoul – von Tokyo aus. Am Kimp’o Airport waren die Einreiseformalitäten schnell erledigt, und so ging es erst mal zur U-Bahn-Station unter dem Flughafen. Dass wir noch etwas ratlos darüber waren, wo wir zuerst eine Unterkunft suchen sollen, schien man uns anzusehen, denn sofort fragte uns ein koreanischer Fahrgast nach unserem Ziel, und geduldig zeigte er uns auf der Karte, wohin die U-Bahn fahren würde. Da er selbst nicht ganz sicher war, kam bald ein anderer Fahrgast hinzu. Bald waren wir im Bilde und entschlossen, unser Glück in der Insadong-Gegend entlang der Chongno-Strasse zu suchen- ein pulsierendes Zentrum der Stadt. Dort gibt es besonders viele Yŏgwan’s, und obwohl es bei unserer Ankunft schon spät am Abend war, fanden wir schon bald eine Herberge. Sie befand sich in einer winzig kleinen Seitengasse nahe der Chonggak-Station. Der Name ist 文化旅館 문화 여관 Munhwa Yŏgwan. Uns öffnete ein offensichtlich schwer geisteskranker Mann, was uns sehr verwirrte. Er gehörte scheinbar zur Familie, und bald kam der richtige Besitzer. Er zeigte uns unser Zimmer, das zwar nicht das sauberste war und außerdem sehr kalt, doch es gab immerhin eine Heizung und einen kaputten Fernseher. Die Fenster waren seltsamerweise zugeklebt. Eine Nacht im Doppelzimmer kostete dort 20000 Won (etwa 15 €), was, wenn man zu zweit reist, recht passabel ist.
Da es United Airlines im Gegensatz zu den meisten anderen Fluggesellschaften nicht schafft, auch nur einen kleinen Imbiss zu reichen, verließen wir die Herberge umgehend, um etwas zu essen. In dieser Gegend etwas zu essen zu finden ist kein Problem. Es gibt sehr viele Straßengarküchen, Restaurants und Kneipen. Die Kneipen sind denen in Japan ziemlich ähnlich. Man geht in diese Art von Kneipen nie allein und nicht nur, um etwas zu trinken.
Die Gäste kommen in Gruppen – sie sind in der Regel Kollegen, die gerade von der Arbeit kamen, Freunde und Kommilitonen. Trinken ist regelrecht Pflicht, und dementsprechend heiter und laut ist die dortige Atmosphäre. Es ist stets Gesetz des Hauses, mindestens ein Gericht zu bestellen, denn im Gegensatz zu unseren Gepflogenheiten sind Essen und Trinken in ganz Ostasien eng miteinander verbunden – dabei wird das Essen geteilt; der Gedanke, ein Gericht nur für sich allein zu haben ist für Ostasiaten völlig fremd. Während jedoch in japanischen Kneipen nur Gerichte in Snackgröße gereicht werden, sind es in Korea riesengroße Portionen, die man allein kaum bewältigen kann. Dementsprechend bestellten wir zwei Gerichte und wunderten uns bereits über den mit 3 € verhältnismäßig hohen Preis, doch die Größe der Portionen rechtfertigte den Preis allemal. Dazu gibt es in der Regel Bier (ca. 1 € pro halben Liter) und Soju, ein koreanischer Schnaps von ungefähr 25 %. Manche bezeichnen ihn als schlechten Wodka, doch das ist Ansichtssache. Sollte man abends noch einkaufen wollen, so kommt man wie auch in Japan in den Genuss von sogenannten Convenience Stores wie etwa 7-Eleven oder Family Mart. Diese sind rund um die Uhr geöffnet und bieten alles Erdenkliche zu halbwegs normalen Preisen. Auf dem Weg zurück zur Herberge schneite es kräftig – das sollte allerdings auch das einzige Mal gewesen sein.
Tag 2: Seoul, Paju
Am nächsten Morgen ging es zur ersten Stadtbesichtigung. Es war sehr kalt und zu allem Überfluss auch noch stark windig. Obwohl inmitten einer Großstadt, blieb der Schnee der letzten Nacht überall liegen. Seoul hat über 10 Millionen Einwohner, und obwohl es mehrmals vollständig zerstört wurde, gibt es noch viele historische Artefakte. Es gibt somit genug zu sehen. Die Stadt befindet sich in einem größeren Talkessel, wobei es in zentraler Lage jedoch einen Berg – genannt 南山 남산 Namsan (übersetzt: Südberg) und einen darum befindlichen großen Park gibt, in welchem sich der Fernsehturm befindet. Von ihm aus hat man eine grandiose Sicht – bei gutem Wetter kann man bis nach Nordkorea blicken. Die ganze Größe der Metropole lässt sich jedoch aufgrund der Topographie selbst von diesem Punkt nicht erfassen. In Soul findet man vom hypermodernen Geschäftsviertel 汝矣島 여의도 Yŏŭido bis hin zum historischen Viertel des ehemaligen Kaiserpalastes alles, was das Herz begehrt. Auch an zahlreichen traditionellen Marktvierteln, Einkaufsstraßen, Vergnügungsvierteln etc. mangelt es wahrhaftig nicht. Schon die Fahrt mit der U-Bahn zwischen den einzelnen Sehenswürdigkeiten ist eine Attraktion, denn viele Stationen des sehr modernen U-Bahn-Systems sind wirklich originell eingerichtet und nicht selten eine Augenweide. Eine Station zum Beispiel erweckt den Eindruck, als ob sie per Hand in den Fels getrieben worden wäre – man fährt mit der Rolltreppe durch sehr natürlich erscheinende Grotten.
Wie man anhand der Flughafenanbindung bereits erkennen kann, ist das Netz sehr weitläufig. Sie fährt auch fast bis in den 北漢山國立公園 북한산국립공원 Bukhansan National Park – ein malerischer Gebirgs-Nationalpark. Dieser besteht aus einem schroffen Granitmassiv mit bis über 800 m hohen Bergen, vielen schönen Gelegenheiten zum Wandern, versteckten Tempeln und kleinen Festungen. Der Eintritt in den Nationalpark verlangt eine sehr kleine Gebühr.
Da ich in Japan viele Koreaner kennenlernte, kam ich in den Genuss, eine gute koreanische Bekannte, Hwang In Boku, des öfteren in Seoul zu treffen. Sie begleitete uns durch Seoul, durch den Puk’ansan-Nationalpark und lud uns zu sich nach Hause ein. Dieses ist in der Stadt 坡州 파주 Paju, gelegen zwischen Seoul und der nordkoreanischen Grenze. Auffällig waren dort (und überall in Südkorea) lediglich viele neue, große Wohnhäuser, die im Inneren doch recht geräumig und komfortabel erschienen. Paju zählt somit auch zu den Satellitenstädten Seouls. Nachdem uns die Mutter ein üppiges Mahl servierte, fuhr uns die Schwester weiter Richtung Norden – zur Grenze. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die Grenze nach Nordkorea zu Gesicht zu bekommen. Eine Möglichkeit ist das geteilte Dorf und Verhandlungsort P’anmunjŏm. Südkoreanern ist der Zutritt verboten; als Tourist muss man in Seoul eine – nicht ganz billige – Tour buchen. Mit Alltagskleidung wird man dort jedoch abgewiesen, es herrscht Kleiderordnung und es gibt sehr viele Restriktionen. Dafür kann man jedoch wirklich bis zur Grenze gelangen.
Eine zweite Variante ist das große sogenannte 烏頭山統一展望臺 오두산 통일전망대 Odusan Wiedervereinigungs-Observatorium. Diese Bobachtungsstation befindet sich auf einem Berg am Sund des Han-Flusses. Das andere, 1 bis 2 km entfernte Ufer ist bereits Nordkorea. Je näher man der Grenze kommt, desto mehr mehren sich die Anzeichen starker militärischer Präsenz; Straßenkreuzungen sind gesichert, überall sieht man Schützenlöcher, Schießscharten, spanische Reiter etc. Nähert man sich Odusan mit dem Auto, so muss man dieses auf einem gesicherten Parkplatz stehen lassen und wird mit einem Bus, begleitet von Militär, zum Observatorium hinaufgefahren.
Dort gibt es alles, was Touristen begehren: ein Café, ein Museum mit nordkoreanischen Alltagsgegenständen, Ausstellungen und viele auf die andere Seite ausgerichtete Fernrohre. Hier kann man seinen Kaffee oder Tee schlürfen, mit Grausen an die andere Seite des Flusses denken und anschließend in sein warmes Auto steigen und zurückfahren.
So perfide dieses Observatorium auch ist, so ist der Eindruck eines Besuches an der Grenze doch ein bleibender. An beiden Ufern sind Parolen mit riesigen Lettern geschrieben, auf beiden Seiten stehen riesige Lautsprecher, die sich auf diese Entfernung beschallen – der eine mit Marschmusik, der andere mit Brandreden. Die Atmosphäre war eisig, und das lag nicht nur an den -15 Grad Lufttemperatur. Erinnerungen an die Mauer in Berlin wurden wach – wohlbewusst aber, dass es den Menschen in Nordkorea unendlich schlechter geht als einst den DDR-Bürgern (angesichts jüngster Meldungen über bis zu 2 Millionen Hungertoten). Hier stellte sich mir wie auch einst in Berlin die Frage, wie sich auf so kurze Entfernung so große Unterschiede in der menschlichen Gesellschaft einstellen können.
Das Museum der Alltagsgegenstände Nordkoreas ist ein Museum des Grauens, ebenso die Ausstellungen. Das jedoch auch Südkorea zur Propaganda greift und einiges sicherlich falsch oder überspitzt dargestellt ist, dürfte klar sein. Unklar ist mir trotzdem, wie Südkorea mit der gleichen Propagandamethode (die oben genannten Lautsprecher und Parolen)
reagieren kann – hat man das wirklich nötig? Hat man jedoch Bücher wie „Flucht aus Nordkorea“ von Kang Chul Hwan und An Hyuk (Koreaone Media Ltd., Seoul: 1994) gelesen, kann man die Grenze nicht unvoreingenommen betrachten; man ist wirklich betroffen.
Tag 7-8: Seoul
Nach zwei viel zu kurzen Tagen in Kyŏngju ging es mit dem Bus zurück ins immer noch sehr kalte Seoul. Der Bus brauchte für die Strecke gute 4½ Stunden und kostete pro Person 13’400 Won. Zurück in Seoul loggten wir erstmal wieder in die vorher schon getestete Herberge ein. Und trafen unsere koreanische Bekannte und ihre Freunde – genau! zum Trinken gehen.
Der nächste und letzte Tag sollte nochmals ganz der Hauptstadt gewidmet werden – und so gingen wir zum ehemaligen Kaiserpalast, den 景福宮 경복궁 Gyeongbokgung. Der befindet sich ganz im Norden der Stadt und ist leicht mit der U-Bahn zu erreichen. Der Palast bzw. die Anlage wurde ab 1394, nachdem Seoul Hauptstadt wurde, errichtet. Allerdings wurde er mehrmals von den regelmässig in Korea einfallenden Japanern zerstört (sagte ein koreanischer Reiseführer ziemlich vorwurfsvoll zu einer gebannt lauschenden Gruppe japanischer Touristen). Und das gründlich. Ende des 19. Jahrhunderts hatte man rund 200 Gebäude wiederaufgebaut, doch nach der erneuten japanischen Besetzung von 1910 bis 1945 blieben gerade einmal 10 Gebäude stehen.
Der Palast ist heute eigentlich „in Bau“ – man plant wohl, ihn wieder in voller Pracht auferstehen zu lassen. Und das sollte man auch – was man heute sieht, ist bereits sehr beeindruckend. Gerade die Dächer (siehe Photo) sind wie zum Beispiel auch am Pulguksa sehr, sehr fein gearbeitet. Diese so zu bemalen oder zu restaurieren muss unglaublich zeitraubend sein. Ich hielt solch feinbemalte Dächer für eine rein koreanische Besonderheit – bis ich am Konfuzius-Tempel in Taichung (siehe Taiwan) ein ähnliches Dach sah. Eintritt in den Kyŏngbokkung kostet 700 Won, Dienstag ist Ruhetag. Im Palastbereich gibt es zwei wärmstens zu empfehlende Museen – ein Kunstmuseum (Staatliches Zentrales Museum) und ein Volksmuseum.
Östlich und südlich der Palastanlage erstreckt sich der Stadtteil 鍾路 종로 Chongno. Dieser Stadtteil ist sehr gross und hat ebenfalls viel zu bieten. Besonders interessant ist die Geschäftsmeile 仁寺洞貫 인사동길 Insadong-Gil, in der sich sehr viele Antikläden, Kaffees und sonstige Geschäfte aneinander reihen – eine interessante und unterhaltsame Gegend.
Am nächsten Tag endete die Koreareise und es ging vorerst zurück nach Japan. Korea ist ein sehr facettenreiches Land, über das wir hier viel zu wenig wissen. Der Trubel in Seoul ist bestimmt nicht jedermanns Sache, aber abseits der Grossstädte findet man wirklich sehr viel Kultur und schöne Landschaften.